02.08.2024
Zettelmeer
Mittlerweile lebt er im Heim. Es ist besser so. Das wissen alle, und in den klaren Momenten weiß er es auch selbst.
Als sie vor einem Jahr seine Wohnung aufgelöst haben, hielten sie auf einmal hunderte Zettelchen in Händen. Jeder Zettel war mit kleinster Schrift beschrieben. Und auf jedem Zettel stand: Dank. Dank an die Eltern für die Begleitung in den Jahren der Not. Dank an seine Frau. „Danke, Gott“, schrieb er auf einen Zettel, „danke, dass du mich bewahrt hast im Krieg.” Auf einen anderen Zettel schrieb er in seiner ganz speziellen Bescheidenheit: „Liebe Kinder, es ist ein Jammer, dass ich mit eurer Unterstützung so lange meine gewohnte Umgebung genießen durfte. Danke.“ Er hat alles aufgeschrieben. Jeder Zettel ein Dankeschön.
Zettelwirtschaft kenne ich gut. Ich habe so viele To-Do-Listen, dass ich sie alle zwei Tage zusammenführen muss, um nicht den Überblick zu verlieren. Aber zwischen meinen ganzen Zetteln mit den vielen größeren und kleineren Aufgaben geht es mir dann doch manchmal verloren: das Gespür für das, was am Ende des Tages wirklich zählt.
Seit ich von seinem Meer aus Zetteln voller Dank weiß, reserviere ich aber einen kleinen Abschnitt auf meinen To-Do-Listen für meinen Dank. Über allen Aufgaben will ich das nicht aus dem Blick verlieren – wofür ich dankbar bin: Dass ich rechtzeitig fertig geworden bin mit der Abrechnung und deshalb Zeit hatte für ein Käffchen in der Mittagssonne. Dass Urlaub ansteht.
Es gibt so vieles. Das Leben ist zu kurz für Undank.
Conrad Krannich aus Halle.