21.10.2018
Abseits des Dorfes
Er hatte sich daran gewöhnt. Die anderem sagen ihm, was richtig ist. Sie denken für ihn, sie umsorgen ihn, sie sie hoffen sogar für ihn. Er hofft nicht. Er kann ja nicht sehen. Er ist blind. Die anderen können sehen. Sie wissen Bescheid. Er kannte es nur so.
Eines Tages kommt Jesus in das Dorf. Die Leute bringen den Blinden zu ihm und bitten ihn: Rühr ihn an. Sie glauben: Das macht ihn heil.
Jesus nimmt den Blinden bei der Hand und geht mit ihm aus dem Blickfeld der fürsorglichen Mitbürger. Er geht aus dem Dorf heraus. Aus der schnatterigen Community. Aus den Chats, aus den Threads. Wandert abseits der Kommentare.
Bis das Getuschel leiser wird. Bis die vielen Blicke, die sie im Rücken haben, nicht mehr zu spüren sind. Bis das Geräusch, dass die Fürsorge macht, abebbt. Und es bedrückend still wird.
Wie lange dauert es, bis einen das alles loslässt?
Minuten? Stunden? Monate?
Bis man sich unabhängig machen kann? Ablösen von der Meinung der anderen? Gesellschafts-Detoxen.
Jesus legt ihm die Hände auf das Gesicht.
Da traut der Mann das erste Mal seinen Augen.
Jesus fragt: Was siehst Du? Und er sagt: Ich sehe Menschen wie Bäume, undeutlich. Kann mir keinen Reim darauf machen.
Sehen braucht Zeit.
Das Licht ins Auge lassen. Nicht nur Schwarzweiß sehen, sondern auch Grauwerte.
Da legt Jesus noch einmal seine Finger auf die Augen des Mannes.
Und nun kann er vollends deutlich sehen: die Bäume, das Dorf, die braune Erde, den knackblauen Himmel.
Halte dich noch eine Weile fern vom Dorf, sagt Jesus ihm noch, fern von den Vielen, dass Du nicht wieder rückfällig wirst. Und er sieht ihn gehen, wackelig aber froh.
Ulrike Greim, Weimar.