09.10.2020
Aufklatschen

Heute klatschen wir sie auf! Vor 31 Jahren stand ein Bierfahrer in dem kleinen Laden meiner Mutter und sagte mit Blick auf die Montagsdemonstranten in Leipzig: Heute klatschen wir sie auf!

Meine Mutter schaute ihn nur an, was folgte war eisiges Schweigen. Es war klar, auf wessen Seite der Bierfahrer stand und es war auch klar, dass er uns Angst machen wollte. Er wusste, dass wir anders dachten als er.

Als unsere Nachbarin abends von einem Arztbesuch aus Leipzig zurückkam, sagte sie: Ihr könnte euch nicht vorstellen, was in Leipzig losgewesen ist. Alles ein einziger, großer Tumult, die Straßen waren voll mit Menschen. Wir sind kaum noch durchgekommen und überall, überall Polizei. In Leipzig stand alles Spitz auf Knopf. So war das vor 31 Jahren.

Der 9. Oktober war für mich immer der Beginn der großen, friedlichen Revolution. Der erste leuchtende Punkt und Tag, der mir gezeigt hat: Es gewinnen nicht immer die Leute, die andere aufklatschen wollen.

Die Friedliebenden waren in der Mehrheit. Damals. Und heute?

Heute denke ich oft: Es geht uns allen zu gut. Wir haben uns ganz schön in dem Geschenk der Freiheit eingerichtet. Manche denken, sie könnten wieder ungestraft sagen: Heute klatschen wir sie auf! - alle, die uns nicht passen: Frau Merkel und Vertreter der Flüchtlingspolitik, Bill Gates und Dr. Drosten, egal, Hauptsache: hassen!

Wir sind ganz schön gesunken in unserer Meinungsfreiheit, manche sind vor lauter Freiheit roh und gehässig geworden. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass auch heute die Friedliebenden und jene mit gesundem Menschenverstand noch immer in der Mehrheit sind!

Eine selige Nacht wünscht Ihnen Kristin Jahn, Superintendentin im Kirchenkreis Altenburger Land


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