17.10.2017
Leben im Todesstreifen
Es pfeift und zwitschert, krächzt und kräht, die Luft voller Stimmen, ein einziges Vogelkonzert. Als führen alle himmlischen Wesen miteinander – wie schon immer, seit Jahrtausenden – ihre Gespräche und Gesänge. Unbeirrt dessen, was da unten auf dem Boden geschieht.
Wir sind unterwegs im Todesstreifen, laufen entlang der ehemaligen Grenze, ganz gelegentlich sieht man noch einen Rest der Zaunanlagen, heute Teil des Naturschutzprojektes „Grünes Band“.
Noch ist sie spürbar, die ehemalige Trennung, der Schmerz, der sich damit verbindet, nicht weitergehen zu können. Für mich jedenfalls, die ich damit groß geworden bin. Meine Kinder erleben hier im Todesstreifen das pralle Leben. Selten war Natur für sie so spürbar, so nahe, so lebendig. Selten fühlen wir uns so verbunden mit der Weite des Himmels und den Stimmen der Vögel.
Vor uns steigt eine Schar von Graugänsen auf, an die Tausende. Laut schnatternd breiten sie sich zum Abflug in den Süden vor.
Auf der ehemaligen Grenze ist der Himmel grenzenlos weit. Wo jahrzehntelang Menschen an das Ende stießen, nisten Kraniche und Störche und ziehen weiter ihrer Wege.
Im Todesstreifen pulsiert das Leben.
Beides geht miteinander, zur gleichen Zeit.
Und ich bin froh, dass ich weiß: Auch in den ausweglosesten Situationen, an den Grenzen meines Lebens, geht das Leben weiter. Auf seine Art. Auch heute und morgen.
In diesem Vertrauen wünscht Ihnen eine gute Nacht
Pfarrerin Elisabeth Wedding aus Jena