17.10.2022
Diakonie fordert Kasko-Modell für Finanzierung der Pflege

Erfurt (epd). Die Diakonie Mitteldeutschland fordert eine Reform der Finanzierung der Pflege.

Nicht die Versicherung, sondern die Pflegebedürftigen sollten einen Festbetrag als Anteil an den Gesamtkosten zahlen, sagte der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Mitteldeutschland, Christoph Stolte, im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Er plädierte für ein Modell nach Art von Teilkasko-Tarifen bei Kfz-Versicherungen. Dabei spiele für Versicherte keine Rolle, ob die Kosten hoch oder niedrig seien. Ein solches Modell helfe zu vermeiden, dass stationär Pflegebedürftige in der derzeitigen Krise die Mehrbelastung durch Energiekosten und Inflation allein tragen.

Der Vorstandsvorsitzende der Diakonie kritisierte zudem den bürokratischen Aufwand für die Sozialwirtschaft. Dadurch werde viel Personal gebunden, das näher am Menschen eingesetzt werden könnte. So gebe es etwa in den 23 Kreisen und kreisfreien Städten in Thüringen 23 unterschiedliche Regelungen zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen. „Wenn Sie als Einrichtungsträger Menschen aus unterschiedlichen Kreisen in Ihren Einrichtungen betreuen, haben Sie jedes Mal ein anderes Abrechnungssystem“, sagte Stolte. Das System könnte durch Pauschalfinanzierungen vereinfacht werden. Ein Grund für zusätzlichen bürokratischen Aufwand sei ein „gewisses Grundmisstrauen gegenüber der Sozialwirtschaft“.

Auch in den Kommunen herrsche Personalmangel. Stolte befürchtet demnach, dass „die wirklich gute Entscheidung der Bundesregierung, das Wohngeld zu erhöhen“, nicht rechtzeitig umgesetzt werde. „Das ist tragisch“, sagte der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Mitteldeutschland. Die Ärmsten in der Gesellschaft hätten keine finanziellen Möglichkeiten, die Hilfe vorzufinanzieren, bis sie das Geld möglicherweise im kommenden Sommer erhielten.

Überdies seien die Anträge so kompliziert, dass es seitens der Wohngeldempfänger hohen Beratungsbedarf gebe. Die Verbraucherzentralen hätten wegen des engen Finanzrahmens aber nur begrenzte Beratungskapazitäten.

Die Diakonie Mitteldeutschland ist die Wohlfahrtsorganisation der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und der Evangelischen Landeskirche Anhalts. Sie deckt weitgehend die Bundesländer Thüringen und Sachsen-Anhalt sowie Teile Brandenburgs und Sachsens ab. Mit 32.000 Mitarbeitenden und mehr als 1.900 Einrichtungen ist sie der größte Wohlfahrtsverband in den betreffenden Bundesländern.

Diakonie: Finanzierung der Pflege reformieren

epd-Gespräch: Matthias Thüsing

Erfurt (epd). Inflation und Energiekrise setzen die Sozialwirtschaft finanziell stark unter Druck. Angesichts der Kostensteigerungen forderte der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Mitteldeutschland, Christoph Stolte, im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) neue Finanzierungsmodelle. Soziale Dienstleistungen wie Pflege, Tafeln und Verbraucherzentralen als Teil der staatlichen Daseinsvorsorge müssten hinreichend finanziert werden.

epd: Herr Stolte, wo liegen die Schwächen bei der derzeitigen Finanzierung sozialer Dienstleistungen?

Christoph Stolte: Im Grundsatz funktionieren die Beziehungen zwischen Versicherten, den Anbietern von sozialen Leistungen und den Kostenträgern, also denen, die diese Leistungen bezahlen müssen. Nicht zufriedenstellend gelöst ist allerdings vielfach das Problem, wer bei unvorhergesehenen Kostensteigerungen diese Mehrkosten bezahlen muss. Das wird besonders deutlich in der stationären Altenpflege. In der Pflege übernimmt die Pflegekasse einen festen Betrag je nach Pflegegrad. In der Pflegestufe 2 sind das 770 Euro. Den Rest müssen die Bewohner und Bewohnerinnen aufbringen.

epd: Das heißt, Inflation und Energiekostensteigerungen gehen vollständig zulasten der Pflegebedürftigen?

Stolte: Ja. Und wenn Sie wissen, dass ein durchschnittlicher Pflegeheimplatz 1.700 Euro in Thüringen kostet und heute schon deutlich über dem heutigen Rentenniveau liegt, werden viele unserer Klienten und Klientinnen Steigerungen von 200 oder 400 Euro nicht bezahlen können.

epd: Wer kommt stattdessen für die erhöhten Kosten auf?

Stolte: Erst wird geschaut, ob Angehörige einspringen müssen. Wenn das nicht möglich ist, werden die Kommunen als Sozialhilfeträger einspringen müssen, die selbst unter enormem finanziellen Druck stehen. Dabei war es ein zentrales Argument bei der Einführung der Pflegeversicherung von fast 30 Jahren, dass pflegebedürftige Menschen im Alter nicht auf Sozialhilfe angewiesen sein sollten.

epd: Was könnte in dieser Situation helfen? Ein Rettungsschirm?

Stolte: Das hilft für den Moment. Aber was wir darüber hinaus fordern, ist eine Umkehrung der Finanzierung.

epd: Was bedeutet das?

Stolte: Beispiel Teilkasko in der Kfz-Versicherung: Da zahlt der Versicherte einen festen Betrag und die Versicherung den Rest - egal, ob der Schaden groß oder klein ist. Dahin sollten wir bei der Pflegeversicherung auch kommen. Das wurde in der Bundesregierung intensiv diskutiert. Doch die Debatte brach ab, als Corona kam.

epd: Wie stark müssten die Beiträge zur Pflegeversicherung für diesen Systemwechsel steigen?

Stolte: Ich kann keine Modellrechnung für ganz Deutschland nennen. Zumal neben den Beträgen zur Pflegeversicherung ja auch ein erheblicher Teil zur Finanzierung der Pflege aus dem allgemeinen Steueraufkommen gezahlt wird. Das ist sinnvoll, weil nicht jede Person in Deutschland in die Pflegeversicherung einzahlt. Und unabhängig von den Kosten: Letztlich ist das eine Frage des politischen Willens. Wir hoffen, dass die jetzige Bundesregierung das Thema wieder aufgreift, anstatt mit kleinen Gesetzesänderungen an Symptomen der Unterfinanzierung herumzudoktern.

epd: Müssten die Bestimmungen für Sozialwirtschaft einer gründlichen Revision unterzogen werden?

Stolte: Nein, das nicht. Aber er bedarf der Anstrengung, dass die sozialen Dienstleistungen, die zur staatlichen Daseinsvorsorge gehören, auskömmlich finanziert werden. Wir kritisieren etwa, dass Teile der Sozialwirtschaft in den gewerblichen Bereich übergegangen sind. Es müssen im Sozialbereich nicht Aktionäre befriedigt werden.

epd: Geht es dabei um Pflege- und Klinikkonzerne?

Stolte: Beispielsweise. Wenn wir die gesamte Sozialwirtschaft wieder in die Gemeinnützigkeit zurücknehmen, bleibt das Geld immer im System. Zumal es immer noch soziale Dienste gibt, für die es überhaupt keine gesetzlichen Finanzierungsverpflichtungen gibt, beispielsweise die Tafeln. Die haben gerade einen riesigen Zulauf. Die Inflation steigt, Armut nimmt zu. Aber die Tafeln stehen finanziell auf unglaublich wackeligen Finanzierungsmodellen. Manche Kommunen geben freiwillig Zuschüsse. Aber sie dürfen das per Gesetz nur so lange machen, wie sie selbst nicht in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Hier trifft es also die Ärmsten der Gesellschaft. Genauso sieht es auch bei Wärmestuben oder Bahnhofsmissionen aus.

epd: Dürfen Ihre diakonischen Einrichtungen diese Angebote unterstützen?

Stolte: Die meisten Unternehmen der Sozialwirtschaft sind gemeinnützige Gesellschaften. Das heißt, sie dürfen keine Gewinne machen, nicht einmal nennenswerte Rücklagen ansparen, um finanzielle Krisenwinter wie diesen zu überstehen. Es ist aber auch so, dass viele Gesellschaften nicht imstande sind, Gewinne zu machen, weil sie heute schon fehlende Mittel durch Spenden kompensieren müssen. Trotzdem sollten wir diese Möglichkeit einmal grundsätzlich diskutieren, Rücklagen aufzubauen.

epd: Wo sehen Sie weiteren Reformbedarf?

Stolte: Es macht uns als Sozialwirtschaft bisweilen ein gewisses Grundmisstrauen zu schaffen. Das erleben wir an vielen Stellen beim Bürokratieaufbau. Da wird viel Personal gebunden, das näher am Menschen eingesetzt werden könnte. Ein Beispiel: Wir haben 23 Kreise und kreisfreie Städte in Thüringen und deswegen haben wir auch 23 unterschiedliche Regelungen, wie die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen gewährt wird. Wenn Sie als Einrichtungsträger Menschen aus unterschiedlichen Kreisen in Ihren Einrichtungen betreuen, dann haben Sie jedes Mal ein anderes Abrechnungssystem. Das könnte man wesentlich vereinfachen, wenn man etwa zu Pauschalfinanzierungen überginge. Stattdessen müssen wir hier und in vielen anderen Bereichen vieles im Detail darlegen.

epd: Hoher bürokratischer Aufwand stellt die Arbeit der Sozialwirtschaft also weiterhin vor hohe Hürden?

Stolte: Es geht immer um den Menschen. Nehmen wir ganz aktuell die wirklich gute Entscheidung der Bundesregierung, das Wohngeld zu erhöhen. Das müsste jetzt eigentlich ganz schnell umgesetzt werden. Aber wir erleben, dass in vielen Kommunen das Personal dafür fehlt, das rasch auf den Weg zu bringen. Und dann ist es so kompliziert, die Anträge überhaupt zu stellen, dass es dazu schon hohen Beratungsbedarf gibt. Aber die Verbraucherzentralen, die das leisten könnten, haben aufgrund des engen Finanzierungskorsetts vielfach auch keine Beratungstermine mehr frei. Wir fürchten daher, dass diese an sich gute Entscheidung des Bundes die Betroffenen erst erreichen wird, wenn es zu spät ist. Das ist tragisch. Denn die Ärmsten in der Gesellschaft haben keine finanziellen Möglichkeiten diese Hilfe vorzufinanzieren, bis sie das Geld dann vielleicht im kommenden Sommer erhalten werden.

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