„Die Orgel muss man greifen“: Ernst Krämer, seit 65 Jahren Organist in der thüringischen Rhön

Wenn sich Ernst Krämer an die Orgel setzt, geht sein erster Blick immer nach oben, zum Engel, der über dem Instrument wacht. Der hat seine Flügel ausgebreitet, als wolle er sagen: „Ich beschütze dich.“

Viel spricht dafür, dass es so ist. Ernst Krämer ist 85 Jahre alt. Seit 65 Jahren spielt er in Diedorf und in den Kirchengemeinden der Region die Orgel, im Sonntagsgottesdienst, bei Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen. Hier in der Rhön hat sich Ernst Krämer über all die Jahre einen Namen gemacht. In mehr als 32 Kirchen hat er gespielt, mehr als 65 Pfarrerinnen und Pfarrer hat er erlebt, sieben Superintendenten, 15 katholische Priester. Ernst Krämer war und ist bis heute die Konstante an der Orgel.

Dabei hatte der 85jährige nie Orgelunterricht, nur einen sehr guten Klavierlehrer – und seinen Vater, der in den 30er- und 40er Jahren als Organist in Diedorf wirkte. Als der eines Tages aus gesundheitlichen Gründen nicht spielen konnte, musste der Sohn Ernst ran – und es klappte sofort: „Mein Vater ist mit mir an die Orgel und hat mir alles gezeigt. Ich habe sofort mit Füßen gespielt, sofort. Und zum Üben hatte ich auch nicht viel Zeit.“

Krämer war zeitlebens in der Landwirtschaft tätig – ab 1961 LPG-Vorsitzender, mit gerade mal 22 Jahren. Sonntags aber war sein Platz in der Kirche, oben an der Orgel, in Diedorf, Fischbach und Klings. Viele Jahre spielte er in drei verschiedenen Gottesdiensten. Weihnachten war er nicht selten im Dauereinsatz, fünf Gottesdienste auf dem Programm. Es gab schon damals zu wenig Organisten, erinnert sich Krämer. „Ich habe Jahre gehabt, da habe ich hier in der Rhön auf Beerdigungen gespielt vor Weihnachten, an Weihnachten bis Neujahr. Ich konnte ja den Pfarrer nicht alleine stehen lassen bei einer Beerdigung.“

Pflichtgefühl, aber vor allem die Liebe zur Kirchenmusik ist es, die Ernst Krämer bis heute trägt und leitet und eine tiefe Verbundenheit mit Kirche und Glauben. Zur Ehre Gottes spielen: „Die Orgel muss man greifen, nicht schlagen, immer mit Gefühl, das mache ich bis heute.“

Prägend für den heute 85jährigen Diedorfer war jener Pfingstgottesdienst, in dem ihm der damalige Superintendent zurief: „Es wird so lange gespielt, bis der letzte Besucher aus der Kirche raus ist!“ Krämer hatte bereits aufgehört zu spielen, da er eigentlich zum nächsten Gottesdienst weitermusste. Also blieb er sitzen und spielte. Bis heute ist Ernst Krämer auch der einzige Organist in der Region, der einen Kanzelmarsch spielt, den Pfarrer also bei seinem Gang hoch zur Kanzel mit der Orgel begleitet.

Treu geblieben ist der Organist auch den alten Notenblättern, die er liebt. Bis heute spielt Krämer nach dem alten Choralbuch, 70, 80 Jahre ist es alt. Gibt es ein Lieblingslied? Eigentlich nicht, sagt Krämer: „Ich spiele alles. Wenn die Leute was bestellen, spiele ich es auch, gerade bei Beerdigungen. Bei Hochzeiten habe ich immer bei der Einsegnung gespielt ‚Ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß‘.“ Lange Jahre hat Ernst Krämer auch die Kirchenchöre in Diedorf und Klings ehrenamtlich geleitet. Er kennt die Menschen aus den Dörfern. Und wenn ein früheres Chormitglied verstirbt, spielt Krämer bei der Beerdigung dessen Lieblingslied auf der Orgel. Die kennt er alle.

Der Engel mit den ausgebreiteten Flügeln oben, über der Diedorfer Orgel, war immer wieder auch Schutzengel für den Organisten. Fünf Mal sei er schwer krank oder verletzt gewesen in seinem Leben, erinnert sich Ernst Krämer: „Ich bin dankbar, dass mir der Herrgott jedes Mal wieder das Leben geschenkt hat. Ich hatte Viren gehabt, hätte weg sein können. Und am Schlepper gehangen, hätte weg sein können. Die Hand unterm Schlepper.“ Ein bisschen taub fühlt sich die Hand bis heute an, aber Krämer lässt sich davon nicht beirren. Er hat sich damals, nach dem Unfall mit dem Traktor, geschworen: „So lange wie ich kann, werde ich die Orgel spielen.“

Zur Ehre Gottes. Zur Erleichterung der Diedorfer Kirchengemeinde. Und auch, wenn heute im Sonntagsgottesdienst nicht selten nur zwei, drei Besucher sitzen, hört Ernst Krämer nicht auf zu spielen: „Den Frust darfst du nicht hochkommen lassen. Du musst immer mit Liebe und Vernunft spielen und mit Gefühl.“

 Sagt es, setzt sich an die Orgel, blickt hoch zum Engel und greift in die Tasten: „Nun danket alle Gott, mit Herzen, Mund und Händen.“


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