02.08.2024
Ökumenische Morgenandacht im Thüringer Landtag 2.2.2023, OKR Dr. André Demut
Predigt zu Röm 1,16, im Raum der Stille des Thüringer Landtags mit Ordinariatsrat Dr. Claudio Kullmann, Katholisches Büro
- Begrüßung Demut
Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. / Amen.
- EG 66, 1-3+8 Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude
- Psalm 126 im Wechsel beten (Liedblatt)
- EG 67, 1-3 Herr Christ, der einig Gotts Sohn
- Schriftlesung: Röm 1, 13-17 (Kullmann)
13Ich will euch aber nicht verschweigen, Brüder und Schwestern, dass ich mir oft vorgenommen habe, zu euch zu kommen – wurde aber bisher gehindert –, damit ich auch unter euch Frucht schaffe wie unter andern Heiden. 14Griechen und Nichtgriechen, Weisen und Nichtweisen bin ich es schuldig; 15darum, soviel an mir liegt, bin ich willens, auch euch in Rom das Evangelium zu predigen.
16Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. 17Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Hab 2,4): »Der Gerechte wird aus Glauben leben.«
- Auslegung zu Röm 1, 16 (Demut)
Liebe Landtagsgemeinde,
„Ich schäme mich des Evangeliums nicht.“
Mit der Scham ist es so eine Sache.
Einerseits ist Scham eine lebenswichtige Emotion.
Scham half unseren evolutionären Vorfahren, sich nicht zu weit von der Gruppe zu entfernen.
Von lauter Fressfeinden umgeben konnte man oder frau – ohne den Schutz der Gruppe - nicht überleben.
Aufkommendes Schamgefühl ist ein Stopp-Zeichen:
„Achtung, du verletzest das, was unter uns gilt,
du entfernst dich zu weit von unserer Gruppe.
Schäm dich.
Kehr zu dem zurück, was innerhalb unserer Gruppe als richtig gilt.“
Was muss passieren, damit wir beginnen, uns zu schämen?
Vielleicht so: Wir beobachten uns dabei, wie wir an einem Ideal scheitern, das wir uns selbst und anderen immer vorhalten. In dem Moment ist uns das – hoffentlich – peinlich und wir schämen uns.
Oder: Wir erleiden einen Kontrollverlust, vielleicht weil wir wütend sind oder überschäumend begeistert oder weil wir zu wenig geschlafen oder zu viel Alkohol getrunken haben … und dann tun wir Dinge, derer wir uns am nächsten Tag schämen.
Auch das Phänomen der Fremdscham ist uns gut vertraut.
Auch wenn wir Nachgeborenen nicht persönlich am Bau von KZs beteiligt waren: Ich gehöre zum Volk der Dichter und Denker und schäme mich für die monströsen Menschheitsverbrechen, die wir Deutschen verübt haben.
Wer hier keine Scham empfindet, hat mindestens ein Empathie-Defizit.
Also einerseits:
Scham ist nicht schlimm.
Scham hilft uns zu leben, hilft uns am Leben zu bleiben und das Leben zu bewahren.
Scham hilft, gute Grenzen zu wahren, nicht übergriffig zu werden, sich taktvoll zu verhalten im menschlichen Miteinander.
Doch wie jedes mächtige Gefühl, hat Scham auch eine zerstörerische Seite.
Es liegt auf der Hand: Wenn Scham verhindert, dass ich mich zu weit von der Gruppe entferne – dann kommt es natürlich darauf an, ob die ganze Gruppe richtig liegt.
Auch ganze Gruppen können irren und in die falsche Richtung laufen.
Wer dann gegen den Strom schwimmt, hat keinen Grund, sich zu schämen. Im Gegenteil, das ist dann ein Grund, stolz zu sein.
Wenn das, was in unserer Gruppe als normal gilt, Menschen unterdrückt und zerstört, dann schützt diese Scham das Falsche.
Menschen schämen sich dafür, dass sie vermeintlich zu dick sind. Sie vergleichen, was sie im Spiegel sehen mit dem, was sie in Filmen sehen – und waren seit vielen Jahren in keinem Schwimmbad mehr.
Menschen schämen sich, weil sie vermeintlich zu langsam sind, sie kommen nicht mehr mit bei der Schnelligkeit des heutigen Lebens. Es ist ihnen peinlich, dass sie die vielen englischen Begriffe in der Alltagssprache nicht verstehen, und sie ziehen sich ins Schneckenhaus ihrer Einsamkeit zurück. Sie schämen sich, weil ihnen von ihrer Umgebung gespiegelt wird, dass sie von gestern sind.
Menschen schämen sich, weil sie arm sind. Sie wissen, dass man es ihnen ansieht, dass sie mit jedem Euro rechnen müssen. Am liebsten wären sie unsichtbar. Die Scham über ihre Situation frisst sie auf.
In all diesen Situationen ist Scham nichts Gutes.
In all diesen Situationen leiden Menschen ihr Leben lang an den Idealvorstellungen, die in der Gesellschaft gelten.
Diese Scham wirkt wie ein Gift, das ihr Leben zerstört.
Wo finden wir ein Gegengift für diese zerstörerische Scham?
Wie können wir diese falsche Scham verlernen und verlieren?
Wie kann ich in guter Weise un-verschämt werden?
In unserem heutigen Bibeltext geht es um das Verlernen einer falschen Scham:
„Ich schäme mich des Evangeliums nicht.“, sagt der Apostel.
Warum sagt Paulus nicht einfach:
„Ich bin vom Evangelium begeistert.“ oder
„Ich bin stolz auf das Evangelium.“
Weshalb diese doppelte Verneinung?
Es ist schon ein Unterschied, ob jemand sagt:
„Ich bin stolz auf meine Herkunft.“ – oder ob jemand sagt:
„Ich schäme mich meiner Herkunft nicht.“
Logisch scheint es fast dasselbe, doch wir hören den Unterschied sehr gut, der zwischen einer fröhlichen Bejahung und einer doppelten Verneinung besteht.
Eine doppelte Verneinung markiert, dass ein Problem existiert, das überwunden werden muss.
Paulus weiß, dass es viele einleuchtende Gründe gibt, sich des Evangeliums vom gekreuzigten Jesus Christus zu schämen.
Das Evangelium von Jesus Christus widerspricht vielen landläufigen Vorstellungen von Normalität:
Was soll das sein: Ein „Sohn Gottes“, der am Kreuz von Leiden und Tod verschlungen wird?
Ein Gesalbter Gottes, ein „Christus“, der sich auch mit Heiden und offensichtlichen Sündern an einen Tisch setzt?
Ein Gott, der nicht ständig mit Zeichen und Wundern dafür sorgt, dass wir an ihn glauben?
Der zulässt, dass wir leiden müssen?
„Der den Kriegen steuert in aller Welt“, wie es in Psalm 46 heißt – was ja offensichtlich bedeutet, dass er auch Kriege zulässt, die wir Menschen gegeneinander vom Zaun brechen?
Ein Gott, der auch gläubige Menschen in Zweifel, Krankheit, Anfechtungen und tiefe Not geraten lässt?
Kann das so stimmen, lieber Paulus?
Wenn dein Evangelium so etwas behauptet, entfernst du dich zu weit von unserer Gruppe. Schäm dich, Paulus und kehre um zu dem, was unter als „normal“ gilt.
Der Apostel sieht das Problem sehr klar und sagt dennoch und mit großem Nachdruck, nein, ich bleibe dabei:
„Ich schäme mich des Evangeliums nicht.“
Auch wer an Jesus als dem Christus glaubt, gehört zur „Gruppe“, zum Volk Gottes. Es stimmt nicht, dass die Christen das gute Gesetz Gottes geringschätzen, nur weil bei ihnen auch Heiden und offensichtliche Sünder Zugang zur Gnade Gottes haben.
Was Paulus von seinen altgläubigen Gegnern vorgeworfen wurde, ist strukturanalog genau derselbe Vorwurf, der auch Martin Luther den damals altgläubigen Gegnern gemacht wurde:
„Wenn das stimmt, was ihr behauptet – dass die Gnade regiert – dann bricht ja das Chaos aus, da kann ja jeder machen, was er will …
Sowohl Paulus als auch Luther weisen diesen Vorwurf entschieden zurück:
Natürlich beachten wir die Gebote Gottes.
Wo lebensdienliche Grenzen verletzt werden, ist Scham eine gute Sache. Und es ist ein Zeichen von seelischer Gesundheit, wenn jemand sich zu schämen beginnt, wenn er die guten Grenzen verletzt hat, die das Leben schützen sollen.
Doch das, was in unserer Gruppe als „normal“ gilt, kann kippen und Scham wird dann der Zerstörung des Lebens dienen.
Dann darf man sich nicht schämen, sondern mit großer Absicht das in Frage stellen, was unter uns als „normal“ gilt.
Es gibt Situationen, da brauchen wir eine fröhliche, eine befreiende Un-Verschämtheit.
Und der Glaube an dieses Evangelium hilft genau dazu:
Er schämt sich seines Aussehens nicht, weil Christus ihn mit all seinen Macken und Unzulänglichkeiten liebt.
Sie schämt sich ihrer Erkrankung nicht, weil Christus unsere menschliche Verletzlichkeit bis hin zum Sterben-müssen auf sich genommen hat. Auch wenn es ganz hart kommt, bleibt er an deiner und meiner Seite.
Er lässt sich nicht von der Scham bestimmen, die er angesichts des gemachten Fehlers empfindet und findet die Kraft, diesen einzugestehen und um Entschuldigung zu bitten.
Ich kann verstehen, wenn viele Menschen es irre finden, dass nun ausgerechnet Deutschland den Weltmeister beim Klimaschutz geben muss, obwohl unser CO2-Ausstoß nur 2 % der weltweiten Menge ausmacht – ich schäme mich dennoch nicht, bei Gesprächen im persönlichen Umfeld und außerhalb der links-grünen Erfurter bubble darauf hinzuweisen, dass diese Welt nicht uns gehört, sondern uns zur sorgfältigen Bewahrung anvertraut ist.
Ich kann gut nachvollziehen, dass eine ungewollte Schwangerschaft eine sehr bedrückende Situation für die betroffene Frau ist. Doch ich schäme mich nicht dafür, in der Diskussion um die geplante Neuregelung zum Schwangerschaftsabbruch darauf hinzuweisen, dass auch das ungeborene Kind ein Lebensrecht hat.
Liebe Gemeinde,
Sie ahnen, diese Reihe ließe sich fortsetzen.
Es gibt Punkte, bei denen wir uns – fröhlich, un-verschämt, vom Evangelium inspiriert – auseinandersetzen dürfen mit dem, was in unserer Gesellschaft weithin als „normal“ gilt.
Die Würde und Wertschätzung aller Menschen und aller Mitgeschöpfe – unabhängig von ihrer Leistung, ihrem Aussehen, ihrer Herkunft - hat in diesem Evangelium präzise seinen Ausgangspunkt.
Der Friede Gottes, der höher ist als aller Menschen Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.
Amen.
- EG 67, 4+5
- Gebet und Vater unser (Kullmann)
- EG 74, 1-4 Du Morgenstern, du Licht vom Licht
- Segen (Demut)