27.10.2024
Die Seherin
In Dresden gegenüber den berühmten Brühlschen Terrassen, auf der anderen Elbseite, steht ein hochherrschaftliches Gebäude: die Sächsische Staatskanzlei. Einst erbaut für königlich-sächsische Ministerien. Ich betrete das Gebäude und werde empfangen von einer riesigen Kuppelhalle mit breiten Treppenaufgängen, behütet von steinernen Löwen. Imposant. Aber da fällt mir auch, direkt gegenüber dem Eingang, eine übergroße Skulptur ins Auge: eine junge Frau in einem goldenen Kleid, beide Hände hat sie erhoben, Daumen und Zeigefingerspitzen aneinandergelegt. Ein Sinnbild für Meditation. Die Augen sind geschlossen, sie lächelt. Die Figur heißt: Die Seherin.
Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar, geht ein bekannter Spruch. Ausgerechnet in einer Regierungszentrale werden die Menschen daran erinnert, dass sie das Wesentliche vielleicht nicht vor Augen haben, wenn sie ihre Akten aufschlagen, sondern erst, wenn sie dazu auch ihr Herz schlagen hören. Aber was ist das Wesentliche? Wenn ich mich frage, was von meinem Leben bleibt, und schließe die Augen, sehe ich meine Kinder. Und in der Regierungszentrale? Ich bin sicher, eine Politik, die sich an den Kindern orientiert, hat damit auch das Wesentliche im Blick, das soziale Gleichgewicht, den Klimaschutz, die Bildungschancen. In Thüringen und auch in Sachsen werden gerade Koalitionsverträge verhandelt. Vielleicht wäre es gut, wenn die, die da verhandeln – den lieben langen Tag und manchmal auch des nachts – hin und wieder die Augen schließen.
Einen schönen Sonntag wünscht Ralf-Uwe Beck, evangelisch und aus Eisenach.